Europäische Säule sozialer Rechte: Zustimmung mit einigen Vorbehalten

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Die EU-Kommission hat Anfang 2016 eine Mitteilung über die geplante Schaffung einer „europäischen Säule sozialer Rechte“ veröffentlicht. Diese soll die wesentliche Grundsätze europäischer Beschäftigungs- und Sozialpolitik zusammenfassen, allerdings vorerst nur für den Euroraum, nicht für die EU als ganzes.

In vielen Punkten ist die Kommissions-Mitteilung und der parallel veröffentlichte Entwurf über mögliche Inhalte einer solchen (20 Politikfelder umfassenden) Säule vage und unbestimmt. Die Kommission hat ihre wahren Ziele und die Reichweite ihrer politischen Ambitionen also noch nicht offen gelegt. Sie hat aber allen interessierten Parteien die Gelegenheit zur Stellungnahme über einen Online-Fragebogen gegeben. Die ULA hat sowohl über Ihren europäischen Dachverband CEC – European Managers auch eigenständig Stellungnahme abgegeben.  Die ULA-Stellungnahme ist nachfolgend dokumentiert.

ULA-Position im Überblick: Diskussion über Säule sozialer Rechte als Chance für mehr Legitimität

Die ULA begrüßt die Debatte über eine „europäische Säule sozialer Rechte“. Das Brexit-Referendum und europakritische Bewegungen in vielen anderen Mitgliedsstaaten haben deutlich gemacht, dass sich das Projekt der europäischen Einigung in einer tiefen Vertrauenskrise befindet. Ob zu Recht oder Unrecht, eine der Ursachen dafür liegt in der weitverbreiteten Wahrnehmung, dass der europäische Einigungsprozess sich zu stark auf die Optimierung des Binnenmarkts in wirtschaftlicher Hinsicht konzentriert, politische und soziale Aspekte hingegen außer Acht lässt.

Aus diesem Grund ist es der richtige Ansatz, eine umfassende Bestandsaufnahme der vorhandenen Regelungen (also des sogenannten „acquis communautaire“) sowie der europäischen Kompetenzen im Bereich Soziales an den Anfang der Diskussion zu stellen. Dies kann dazu beitragen, die politischen Verantwortlichkeiten abzugrenzen und überzogene oder unbegründete Erwartungen an europäische Politik zu vermeiden. Eine solche Analyse ist auch die notwendige Voraussetzung für mögliche Debatten über die Notwendigkeit neuer gesetzgeberischer Maßnahmen, neuer Institutionen oder sonstiger politischer Initiativen auf EU-Ebene.

Gemische Gesamtbewertung

Die Gesamtbewertung der Kommissionsmitteilung fällt dennoch eher gemischt aus:

  • Die geplante Beschränkung des geografischen Geltungsbereichs der “Säule“ auf (vorerst) den Euroraum ist aus Sicht der ULA politisch schwer nachvollziehbar. Zwar bedarf der Euroraum auf Grund der engen Verzahnung der nationalen Politiken (z.B. durch das „europäische Semester“ und die daraus resultierenden Wirkungen für die nationalen Sozialpolitiken im Euroraum) in besonderer Weise einer allgemeinpolitischen Flankierung. Die rechtliche Basis einer „Säule sozialer Rechte“ läge aber im Wesentlichen im EU-weit geltenden europäischen Primärrecht. Aus Sicht der ULA sollte sich eine solche „Säule“ daher weder von den Europäischen Verträgen noch vom bestehenden „acquis“ abkoppeln oder anderweitig „verselbstständigen“. Daraus resultiert, dass das Ziel einer „Säule sozialer Rechte“ besser von Anfang an für die EU als Ganzes verfolgt werden sollte.
  • Über weite Strecken sind die Kommissionsmitteilung und der Entwurf der Säule eher vage und unverbindlich formuliert. Es bleibt außerdem unklar, mit welchen Instrumenten der bestehende „acquis“ ergänzt werden soll und welche Rechtsnatur die „Säule“ haben sollten. Auch fehlt der ULA eine einleitende klare Feststellung dahingehend, dass eine Erhöhung der Wirksamkeit der bestehenden rechtlichen Regelungen grundsätzlich Vorrang vor allen Überlegungen über neue Instrumente haben sollten.
  • Der Einfluss und die Rolle der Sozialpartner, des Sozialen Dialogs sowie von Tarifverträgen und betrieblichen Vereinbarungen wird aus Sicht der ULA über weitere Strecken in den Konsultationsdokumenten nur unzureichend gewürdigt.
  • Das Papier widmet sich aus Sicht der ULA an einigen Stellen zu ausführlich Politikbereichen, in denen die EU laut Art. 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) derzeit keine eigenen Kompetenzen hat. Dies ist etwa der Fall bei den Grundprinzipien der einzelstaatlichen Sozialversicherungssysteme oder beim Arbeitsentgelt. Löhne und Gehälter sind im „Negativkatalog“ der Kompetenzregelungen in Art. 153 Abs. 5 AEUV sogar explizit aufgeführt. Ausführlich und tendenziell unscharf in Bezug auf die politischen Ziele fallen auch die Kommentare zu Politikfeldern aus, in denen die EU im Wesentlichen nur über Mindeststandards rechtsetzend tätig sein kann. Dies gilt insbesondere für Beschäftigungsbedingungen. Soweit diese Vorgehensweise darauf abzielt, die in Art. 153 AEUV enthaltenen Kompetenzregelungen zu verändern und für zusätzliche europäische Gesetzgebungskompetenzen zu werben, lehnt die ULA dies ab.
  • Die ULA hat Bedenken gegen eine zu euphorische Würdigung des „Flexicurity“-Ansatzes.  Die Kommission verwendet nämlich bisher eine pauschalisierende Definition dieses Modells, indem sie sich an den entsprechenden Beispielen weniger Staaten (Niederlande, Dänemark) orientiert. Unbestritten ist, dass diese Staaten bei der Aktivierung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden Erfolge erzielt haben. Ein Fokus auf zügige und effiziente Übergänge bei Stellenwechseln ist politisch durchaus sinnvoll. Bisherige Umsetzungsvorschläge der Kommission zum Thema „Flexicurity“ zeigten aber ein zu einseitiges Abzielen auf die Abschaffung von Bestandsschutzregelungen, insbesondere auf den gesetzlichen Kündigungsschutz. Sie werden als unausgewogen von den Führungskräften in Deutschland abgelehnt. Die richtige Mischung aus Flexibilität und sozialer Sicherheit am Arbeitsmarkt lässt sich nur für jeden einzelnen Mitgliedsstaat individuell bestimmen. Sollte dies gelingen, kann der Flexicurity-Ansatz positive Effekte haben: Die Agenda 2010 Reformen in Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder sind ein Beispiel für solch eine gelungene Reform.

Fazit: Vorrang für Koordinierung und Mindeststandards vor Harmonisierung

Aus Sicht der ULA sollte im Bereich der Sozialpolitik die entscheidende Rolle der EU (wie schon in der Vergangenheit auch in Zukunft) in einer Koordinierung der nationalen Beschäftigungs-, Arbeits- und Sozialpolitiken bestehen. Diese Koordinierung kann über Richtlinien und Verordnungen erfolgen (insbesondere über die kontinuierliche Weiterentwicklung der Verordnung 883/04 über die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme) und sollte sich im Übrigen auf Benchmarking-Prozesse und den Austausch über „good practices“ beschränken, letzteres ohne strikte Rechtsverbindlichkeit europäischer politischer Zielvorgaben. Im Interesse von mehr sozialem Zusammenhalt könnte sie fallweise auch von ihren vorhandenen Befugnissen zur Setzung von Mindeststandards verstärkt Gebrauch machen. Insoweit trägt die ULA auch die Vision einer sozialen „Aufwärtskonvergenz“ mit. Eine verstärkte Harmonisierung zu Lasten der Befugnisse der Mitgliedsstaaten lehnt die ULA hingegen ab.

Weiter zur vollständigen Stellungnahme: