Koalitionsvertrag unter der Lupe – Rückenwind für Fach- und Führungskräfte?
Deutschland hat eine neue Regierung: Mit dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD liegt ein ambitioniertes Arbeitsprogramm für die kommenden Jahre vor. In Zeiten geopolitischer Unsicherheit und wirtschaftlicher Herausforderungen ist es ein wichtiges Signal, dass eine Regierung der demokratischen Mitte Verantwortung übernimmt und die politische Handlungsfähigkeit sichert. Gerade für Fach- und Führungskräfte ist das entscheidend. Wer Verantwortung trägt und Leistung erbringt, braucht Stabilität und Planbarkeit. Der Koalitionsvertrag setzt auf pragmatische Schritte, vermeidet jedoch vielerorts grundlegende Entscheidungen. Ob dies für eine echte Erneuerung reicht, wird sich zeigen.
„Die neue Bundesregierung übernimmt Verantwortung in einer Zeit des Wandels, die von globalen Unsicherheiten, dem rasanten Fortschreiten der technologischen Transformation und einem steigenden Wettbewerbsdruck geprägt ist.“,
so ULA-Präsident Roland Angst.
Die industriepolitischen Kapitel sind solide aufgestellt: Ein Deutschlandfonds zur Mobilisierung von bis zu 100 Milliarden Euro privatem Kapital, Investitionen in Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz, Wasserstoff, Biotech und Mikrochips sowie der Abbau von Genehmigungshürden geben der Wirtschaft Perspektive.
Erfreulich ist auch das Thema Moderne Arbeitswelt. Die geplante Entbürokratisierung der Arbeitszeiterfassung – unter Wahrung der Vertrauensarbeitszeit – kann praxisnah umgesetzt Chancen eröffnen. Die steuerliche Förderung von Mehrarbeit über die tarifliche Arbeitszeit hinaus sendet das Signal: Wer mehr leistet, soll auch mehr behalten dürfen. Die steuerfreie Weiterbeschäftigung im Ruhestand setzt sinnvolle Anreize, um wertvolle Erfahrung im Betrieb zu halten – ein wichtiger Schritt angesichts des Fachkräftemangels.
Weniger überzeugend ist dagegen das Rentenkapitel. Das Rentenniveau von 48 Prozent wird bis 2031 gesetzlich garantiert, das Renteneintrittsalter bleibt unangetastet. Zwar kommen neue Modelle wie die Frühstart-Rente, doch echte Reformen zur langfristigen Finanzierung fehlen. Stattdessen setzt der Vertrag auf ein Versprechen von Stabilität, ohne die Konsequenzen ausreichend zu reflektieren. Denn wenn Renten unabhängig von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung garantiert steigen, geraten gerade junge Erwerbstätige unter Druck.
Auch in den sonstigen Bereichen der Sozialpolitik bleibt der Vertrag hinter den Erwartungen zurück. Reformen zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme werden vertagt, zentrale Fragen in Kommissionen ausgelagert. Dabei warnen Experten bereits, dass die Beiträge zur Sozialversicherung bis 2035 auf über 50 Prozent steigen könnten – mit spürbaren Folgen für Arbeitskosten und Wettbewerbsfähigkeit.
Während in der Industrie- und Energiepolitik viele wichtige Schwerpunkte gesetzt werden, bleiben die Vereinbarungen zum Klimaschutz schwach. Ein schlüssiger Plan zur Erreichung der Pariser Klimaziele fehlt. Das ist nicht nur klimapolitisch fragwürdig, sondern birgt auch wirtschaftliche Risiken – etwa durch regulatorische Unsicherheiten.
Das Bekenntnis zu Leitbranchen wie der Automobil- und Chemie- sowie Pharmaindustrie ist zu begrüßen; es sollten aber auch die Weichen zur Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen gestellt werden. Bürokratieabbau, Digitalisierung, Infrastrukturmodernisierung und die Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung sind richtige Schritte.
Der Vertrag setzt vielfach auf Realismus statt Ideologie und auf Investitionen statt Rückzug – ein pragmatischer Gestaltungsansatz. Doch in zentralen Zukunftsfragen bleibt er vage. Steuererhöhungen soll es zwar nicht geben, doch der Solidaritätszuschlag bleibt – ein enttäuschendes Signal für viele Leistungsträger. Ob der angekündigte Aufbruch gelingt, hängt von konkreten Reformen und ihrer Finanzierung ab. Vieles steht bislang unter Finanzierungsvorbehalt: Die SPD zeigt wenig Sparbereitschaft, die CSU hat zusätzliche Ausgaben durchgesetzt, etwa die Mütterrente. Ob die Koalition Kurs halten kann, wird sich zeigen – vor allem, wenn finanzielle Spielräume enger werden.
Stimmen aus den Mitgliedsverbänden des Deutschen Führungskräfteverbands ULA zum Koalitionsvertrag:
Stephan Gilow, Hauptgeschäftsführer des Verbands angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA):
„Chemie und Pharma freut, ist das Tempo, mit dem Union und SPD ihren Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Auch scheint die neue Regierung die Bedeutung der Industrie für den Wohlstand erkannt zu haben. Das ist richtig – und längst überfällig. Licht und Schatten sind jedoch nah beieinander. Und Papier ist geduldig – was wir jetzt brauchen, ist Konsequenz in der Umsetzung. Denn unsere Unternehmen haben mit der Krise zu kämpfen. Es geht um zu hohe Energiekosten, Unsicherheit bei der Zukunftsplanung und drohende Abwanderung – die Beschäftigten in den Betrieben vor Ort spüren es tagtäglich am eigenen Leib. Die Koalition hat zu liefern: Es geht um die industrielle Substanz und ums Vertrauen in unser Land.“
Uta Zech, Leiterin der Equal-Pay-Day-Kampagne (BPW Germany):
„Der Koalitionsvertrag erklärt die ‚tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft und deren Durchsetzung‘ zum zentralen Anliegen der Regierungsarbeit. Wie ernst die neue Regierung das meint, zeigt die Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie in deutsches Recht. Dazu soll laut Koalitionsvertrag eine Kommission eingesetzt werden, die bis Ende 2025 Vorschläge macht. Auch wenn danach ein ‚entsprechendes Gesetzgebungsverfahren zügig eingeleitet‘ wird, ist eine Umsetzung bis zum Juni 2026 kaum zu schaffen. Es existiert bereits ein durchdachter Gesetzentwurf der letzten Regierung, inklusive digitaler Tools für Unternehmen. Diesen Entwurf umzusetzen, würde Gleichstellung vorwärtsbringen und Frauen nicht länger auf ihren verdienten Lohn warten lassen.“
Dr. Andreas Pinheiro, Präsident der Vereinigung Cockpit (VC):
„Der Koalitionsvertrag enthält richtige Ansätze für einen wettbewerbsfähigen Luftverkehrsstandort Deutschland, insbesondere mit Blick auf Steuer- und Gebührenentlastungen sowie die Förderung nachhaltiger Kraftstoffe. Als hochqualifizierte Fachkräfte tragen Pilotinnen und Piloten täglich Verantwortung für die Sicherheit im Luftverkehr. Dieser Einsatz darf nicht durch immer höhere Steuern und Abgaben belastet werden. Entscheidend ist jedoch: Entlastungen müssen an verbindliche soziale Bedingungen geknüpft sein. Was fehlt, ist ein klarer Plan gegen Sozialdumping und Tarifflucht in der Luftfahrt. Die Vereinigung Cockpit (VC) fordert einen Dreiklang für die Zukunft des Luftverkehrsstandortes: Es braucht neben fairen Wettbewerbsbedingungen, tariflich abgesicherte Arbeitsplätze und eine Stärkung gewerkschaftlicher Rechte – damit das Erreichen von ökologischen und wirtschaftlichen Zielen nicht zu Lasten der Beschäftigten geht.“
Willi Rugen, Präsident des Bundesverbands Deutscher Volks- und Betriebswirte (bdvb):
„Der bdvb begrüßt die geplanten Investitionsanreize durch Abschreibungen, welche die Investitionen fördern und die Wirtschaft stärken werden. Der Abbau der Bürokratie und die Digitalisierung der Verwaltung sind für uns ebenfalls positive Voraussetzungen für mehr Effizienz und Transparenz, die zur Entlastung der Wirtschaft beitragen werden. Dies wird nicht nur die Unternehmensgründung fördern, sondern auch das Fachkräfteangebot. Die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierungs- und Bürokratieabbauziele stellt aber auch eine erhebliche Herausforderung dar. Konsequentes Management ist daher notwendig, um die versprochenen Effekte zu erzielen. Als Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte hoffen wir auf eine bewusste und erfolgreiche Umsetzung der Ziele im neuen Koalitionsvertrag.“
Dr. Michael Weber, Präsident des Verbands leitender Krankenhausärztinnen und -ärzte (VLK):
„Der neue Koalitionsvertrag enthält mit seinen acht Seiten zur Gesundheitspolitik wichtige Impulse für die dringend notwendige Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Beteiligung des Bundes am Transformationsfonds ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer zukunftsfesten Krankenhauslandschaft. Sie zeigt den politischen Willen zur Mitgestaltung des Umbaus. Jetzt gilt es, diesen Willen auch in konkrete Maßnahmen zu überführen – mit Planbarkeit und einer nachhaltigen Finanzierungsperspektive für die Krankenhäuser. Der VLK erwartet von der neuen Bundesregierung entschlossenes Handeln: Reformen müssen umgesetzt, nicht erneut vertagt werden. Kommissionen dürfen kein Ersatz für politische Entscheidungen sein. Wir brauchen endlich greifbare Veränderungen, die den Versorgungsalltag verbessern und Planungssicherheit für die Kliniken schaffen.“
Gerhard Kronisch, Vorstandsmitglied des Verbands Fach- und Führungskräfte (VFF):
„Wir brauchen die Onlinewahlen, aber nicht nur bei den Be-triebsratswahlen, sondern auch bei den Sprecherausschuss-wahlen. Gerade für leitende Angestellte, die viel unterwegs und oft an mehreren Standorten im Einsatz sind, ist die Urnenwahl ein Problem. Und die Briefwahl ist keine echte Alternative. Sie kostet viel Geld und verschlingt große Zeitressourcen. Auch beim jüngsten Anlauf im Koalitionsvertrag hat das Bundesmi-nisterium für Arbeit und Soziales die Leitenden wieder einmal vergessen. Obwohl die ULA sich intensiv dafür eingesetzt hat, den Weg für Onlinewahlen ab 2026 auch für Sprecheraus-schüsse freizumachen. Onlinewahlen verringern den adminis-trativen Aufwand, steigern die Wahlbeteiligung und stärken da-durch die Legitimität der gewählten Gremien. Die nächste Chance für eine Reform kommt erst im Jahr 2030. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik jetzt aktiv wird.“
Kenan Häberle, Geschäftsführer des Bundesverbands der Bilanzbuchhalter und Controller (BVBC):
„Fachkräftesicherung braucht mehr als Appelle – sie braucht Vertrauen in Kompetenz und die entsprechenden Handlungsspielräume. Der Koalitionsvertrag setzt wichtige Impulse. Doch Transformation gelingt nur, wenn wir Qualifikation über Formalien stellen und Kompetenzen nicht verwalten, sondern nutzen. Dabei benötigen Führungskräfte ein Umfeld, in dem Fähigkeiten zählen – nicht Titel. Selbstständige Bilanzbuchhalterinnen und Bilanzbuchhalter zeigen exemplarisch, welches Potenzial brachliegt, wenn fachliche Leistung nicht konsequent anerkannt wird. Der BVBC steht für ein Berufsrecht, das wirtschaftliche Realität und Verantwortung endlich zusammenführt.“
Frank Sarfeld, Stellvertretender Vorsitzender des Völklinger Kreises (VK):
„‚Braucht ihr eigentlich noch diese Christopher Street Days?‘, fragte mich kürzlich der Vorstand eines DAX-Konzerns. ‚Du bist doch jetzt mit einem Mann verheiratet.‘ Fakt ist: LGBTQIA-Menschen sind nach wie vor nicht komplett gleichgestellt. Auf die Regierung und die sie tragenden Parteien kommt viel Arbeit zu: So muss Artikel 3 Grundgesetz um einen expliziten Schutz von LGBTQIA-Menschen ergänzt und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz reformiert werden, Regenbogenfamilien im Abstammungsrecht gleichgestellt, vorhandene Lücken im Konversionsschutzgesetz geschlossen werden, um nur einige der Themen zu nennen. Dies ist umso wichtiger, als auch deutsche Konzerne bereitwillig auf den Zug des von Donald Trump gestarteten gesellschaftlichen Rollback aufspringen und ihre DIE-Programme (Diversity, Inclusion, Equality) massiv zurückfahren. Nicht nur in Zeiten des Arbeitskräftemangels ein großer Fehler, wie eine Studie der NRW-Landesregierung zeigt: LGBTQIA-Menschen werden im Job auch in KMU weiter diskriminiert. ‚Ihr hat doch schon alles erreicht‘, sagte der Vorstand. Nein! Es gibt noch viel zu tun. Das weiß auch die neue Bundesregierung.“



