GASTBEITRAG – Freiheit braucht Führung: Demokratie verteidigt ihre Erzählungen
Autor: Dr. Martin von Broock (Vorstandsvorsitzender des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik)
Nach dem Regierungswechsel ist die Debatte über die Resilienz unserer Demokratie abgeflaut. Die politische Agenda wird vor allem von Wirtschaft, Energie, Finanzen und Sicherheit bestimmt. Doch schnelle Erfolge sind kaum zu erwarten. Die Formel „mehr Lösungen, weniger Polarisierung“ erfüllt sich kurzfristig nicht. Gleichzeitig rücken die Landtagswahlen 2026 näher – mit besorgniserregenden Prognosen.
Die Frage kehrt zurück: Wie gehen wir mit Populisten und Extremisten um? Fünf Strategien stehen im Raum: Verbote durch den Rechtsstaat, Abgrenzung durch Brandmauern, Ignorieren im Vertrauen auf die Stärke der Demokratie, Marginalisieren durch bessere Politik, Zusammenarbeit in begrenzten Formen.
Jede dieser Strategien setzt aber voraus, dass die freiheitliche Grundordnung intakt bleibt. Und genau hier liegt die eigentliche Achillesferse.
Demokratie braucht Erzählungen
Der Historiker Yuval Harari zeichnet unsere Zivilisation so nach: Menschen können in großen Gruppen zusammenarbeiten, weil sie gemeinsame Erzählungen teilen. Auf diesen Erzählungen bauen Ordnungen und Vertrauen auf. Im Grundgesetz ist es die Erzählung der Menschenwürde, die allen Regeln und Verfahren vorausgeht. Nicht die Ordnung erzeugt also die Erzählung – die Erzählung prägt die Ordnung. Daraus folgt: Demokratien brechen nicht zuerst an schwachen Regeln. Sie brechen, wenn ihre Erzählungen nicht mehr akzeptiert werden.
Wie Demokratien sterben
Das zeigen die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrer Studie „Wie Demokratien sterben“ mit einem wiederkehrenden Muster. Angreifer der Demokratie stellen
Gegner nicht mit Argumenten, sondern mit Erzählungen kalt. Erst erklären sie andere Parteien, Medien oder Gruppen zu Feinden und sprechen ihnen die Legitimation ab. Mit Verweis auf eine angebliche Bedrohungslage diskreditieren sie dann Institutionen und Verfahren. So kippt der politische Wettbewerb: Konkurrenz wird durch Feindschaft ersetzt. Kooperation wird unmöglich.
Kompromisse gelten als Verrat. Wer dann „Sieg oder Untergang“ predigt, kann Schritt für Schritt Freiheitsrechte abbauen – und zugleich Zustimmung gewinnen.
Die Gegner der Demokratie setzen also gerade nicht auf offenen Rechtsbruch und Revolution. Stattdessen missbrauchen sie die Freiheiten der Demokratie, um deren geistige Grundlagen zu untergraben.
Das Spielfeld sichern
Viele hoffen, dass Demokratien sich am besten verteidigen, indem sie Probleme schnell und wirksam lösen. Aber: Ohne Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft kann Politik kaum tragfähige
Lösungen hervorbringen. Erst die gemeinsame Erzählung vom „Spiel auf demselben Spielfeld“ mit einem manchmal harten, aber stets würdevollen Wettbewerb macht es möglich, dass die
Mitspieler Gegner im Wettbewerb bleiben, anstatt Feinde zu werden. Unter Gegnern können gemeinsame Lösungen trotz fundamentaler Interessengegensätze gelingen. Unter Feindschaft scheitern dagegen qualifizierte Mehrheiten in Parlamenten, sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen oder effektives Krisenmanagement.
Wer die Demokratie schützen will, muss also nicht nur den Wettstreit auf dem Spielfeld organisieren. Er muss das Spielfeld selbst sichern – gegen alle, die es angreifen.
Führungskräfte als Erzähler
Erzählungen existieren nicht von selbst. Sie brauchen Erzähler. In Demokratien tragen Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft diese Verantwortung. Ihre Haltung entscheidet:
Bleiben sie bei Respekt, Regeltreue und Kooperation? Oder passen sie sich Verachtung. Radikalität und Ausbeutung an? Mit ihren Worten können Führungskräfte die Ideen der Demokratie verteidigen – oder sie verraten. Mit ihrem Verhalten können sie Vertrauen stärken – oder zerstören. Demokratie lebt nicht nur von Wahlen und Verfahren. Sie lebt auch von Vorbildern, die im Streit klar bleiben, aber Grenzen respektieren. Und sich in dieser Haltung auch nicht von erstarkenden Angreifern irritieren lassen.
Die Lehre der Geschichte
Ein Blick zurück zeigt die Wirkmächtigkeit solcher Führung. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, ausgelöst durch „Verführung“ mit Feindbildern. Der Frieden kam nicht durch Verträge
allein, sondern vor allem durch eine neue Erzählung: die Vision eines geeinten Europas. Führende wagten den Schritt von Feindschaft zur Kooperation. Aus Annäherung wurde Zusammenarbeit, aus der Wirtschaftsgemeinschaft die politische Union.
Heute stehen wir vor einer ähnlichen Herausforderung. Nationalismus, Misstrauen und Polarisierung gewinnen wieder Kraft. Umso wichtiger ist es, die demokratische und europäische Erzählung
zu erneuern und an gescheiterte Alternativen zu erinnern – entschlossen, klar und für alle verständlich.

ULA/ Jens Schicke
